Wildnis

Kulturlandschaft oder "Wildnis" in den Alpen?

Fallstudien im Val Grande-Nationalpark und im Stronatal (Piemont, Italien)

 

Das Projekt

Die Landschaft der Alpen ist heute von starken Gegensätzen geprägt: Während in vielen Gebieten die traditionelle Kulturlandschaft durch Verstädterung und Industrialisierung in Gefahr ist, erobert sich die Natur auf der Südabdachung des Alpenbogens ganze Landschaften zurück. Gleichzeitig gewinnt in der naturschutzfachlichen Diskussion die Forderung nach unbeeinflusster Naturdynamik und "Wildnis" im Kontrast zu den statisch konservierenden Managementkonzepten zunehmend an Bedeutung.

Im Rahmen des von der Bristol Stiftung in Zürich finanzierten Forschungsprojekts "Veränderung alpiner Landschaften bei Rückzug der Landnutzung - von der Kulturlandschaft zur Wildnis" wurden die ökologischen und sozialen Folgen von Entsiedelung, Verbrachung und ungelenkter Landschaftsdynamik am Beispiel von zwei vom Rückzug des Menschen geprägten Gebieten in den Alpen des Piemont untersucht:

  • Dem Val Grande-Nationalpark, der 1992 als Wildnisgebiet eingerichtet wurde. Während große Teile des jahrhundertelang kultivierten Parkinneren seit mehreren Jahrzehnten unbewohnt sind und brachliegen, sind die äußeren Zonen noch besiedelt und werden zum Teil landwirtschaftlich genutzt. Darüber hinaus wird der Park alljährlich von vielen Touristen besucht.
  • Dem Stronatal, wo die Bevölkerungszahlen stark rückläufig sind, der obere Talabschnitt nur noch im Sommer bewohnt ist und sich die Almwirtschaft heute auf wenige Almen beschränkt.
Geographische Lage der Untersuchungsgebiete
(rot: Val Grande-Nationalpark, gelb: Stronatal)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

In einem transdisziplinären Forschungsansatz standen dabei folgende Fragen und Methoden im Mittelpunkt:

FragestellungMethodik
Entstehung und Entwicklung der alpinen Kulturlandschaft in Raum und ZeitHistorische Landschaftsanalyse
Konsequenzen für die Vegetations- und Strukturvielfalt der alpinen LandschaftVegetationsökologische Landschaftsanalyse
Folgen von Entsiedelung und Verbrachung für Bevölkerung und BesucherErhebung von Meinungsbildern durch Befragung mittels Interviews, Fragebögen und teilnehmender Beobachtung
Analyse der zukünftigen Perspektiven für Umwelt und GesellschaftErhebung von Meinungsbildern durch Befragung mittels Interviews, Fragebögen und teilnehmender Beobachtung/Literaturstudium

 

 

 

 

 

 

 

 

Basierend auf den Ergebnissen wurde das Spannungsfeld von Kulturlandschaft und "Wildnis" sowie das Naturschutz-Leitbild "Wildnis" einer kritischen Analyse unterzogen.

Methodik und Ergebnisse 

valgrande-quaggiui.jpg

Im italienischen Piemont sind Land- und Forstwirtschaft in vielen Alpentälern stark im Rückgang begriffen. Die Bevölkerung ist aus zahlreichen Dörfern teilweise oder vollständig abgewandert. Die alpine Kulturlandschaft ist dadurch sichtlichen Änderungen unterworfen. Dieser Landschaftswandel sowie dessen ökologische und soziale Auswirkungen waren Gegenstand des von der Bristol-Stiftung in Zürich geförderten Forschungsprojekts "Veränderung alpiner Landschaften bei Rückzug der Landnutzung am Beispiel des Val Grande-Nationalparks sowie des Stronatals - Von der Kulturlandschaft zur Wildnis".

Am Beispiel zweier Untersuchungsgebiete, dem Gebiet der Gemeinde Premosello Chiovenda im Val Grande-Nationalpark sowie dem oberen Stronatal (beide in der Provinz Verbano-Cusio-Ossola) stand das Spannungsfeld von Kulturlandschaft und Wildnis im Mittelpunkt der Untersuchungen. Neben vielen parallelen Entwicklungen in Geschichte und Gegenwart weisen diese Gebiete Unterschiede auf, die hinsichtlich einer Analyse der gegenwärtigen Situation und der Entwicklung von Perspektiven für die Zukunft eine aufschlussreiche Gegenüberstellung ermöglichen:

  • Zum Wildnisgebiet erklärtes Schutzgebiet (Val Grande-Nationalpark) gegenüber einem Gebiet ohne entsprechenden Schutzstatus (Stronatal)
  • Dauersiedlungen (Premosello und Colloro) gegenüber Sommersiedlungen (Piana di Forno, Campello Monti im Stronatal)
  • Größere beweidete Flächen (oberhalb von Campello Monti im Stronatal) gegenüber vorwiegend ungenutzten Flächen (Val Grande-Nationalpark)

Im Mittelpunkt der Untersuchungen standen die erfolgten Landschaftsveränderungen, deren Auswirkungen auf die Vegetations- und Strukturvielfalt, die Wahrnehmung des Landschaftswandels durch Bevölkerung und Touristen sowie die sozialen und ökologischen Folgen von Entsiedelung und Verbrachung. Vorrangiges Ziel war die Diskussion des Naturschutz-Leitbildes "Wildnis" sowie die Entwicklung von Perspektiven für die Zukunft. Die vorliegende Fragestellung legte es nahe, in einem transdisziplinären Forschungsansatz verschiedene Methoden aus Geschichtswissenschaft sowie Ökologie und Soziologie zu verbinden.

Im Rahmen dieses Projekts wurden zwei Dissertationen angefertigt:

  • "Landschaftsentwicklung und ‚Wildnis' im Val Grande-Nationalpark" (HÖCHTL, 2003)
  • "Folgen von Entsiedelung und Verbrachung für eine Alpenlandschaft und deren Bevölkerung. - Das Fallbeispiel des Stronatals im Piemont (Italien)" (LEHRINGER, 2003)

Die historische Landschaftsanalyse hatte das Ziel, die traditionelle Kulturlandschaft zu rekonstruieren, das in ihr gespeicherte Kulturwissen freizulegen und die Ergebnisse mit dem heutigen Landschaftszustand zu vergleichen. Ausgewertet wurden archivalische Schriftstücke, das historische Rabbini-Kataster aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Luftbilder aus den Jahren 1954, 1970, 1991/92, Reisebeschreibungen und umfangreiche Sekundärliteratur. Die historischen Landnutzungskarten wurden digitalisiert. Weiterhin wurden punktuelle, linienförmige und flächige Kulturlandschaftselemente im Maßstab 1:10.000 kartiert. Zahlreiche informelle Interviews mit älteren Bewohnern ergänzten die geschichtlichen Recherchen.

Als Grundlage für das Verständnis der Landschaftsdynamik wurde eine vegetationsökologische Landschaftsanalyse durchgeführt. Angewendet wurden vor allem Methoden der Vegetationskunde und der Fernerkundung. Die alpine Landschaft wurde auf verschiedenen Maßstabsebenen in Raum und Zeit sowie in Abhängigkeit von früheren und aktuellen Nutzungseinflüssen analysiert. Nach der Methode von BRAUN-BLANQUET (1964) wurden Artenlisten und Vegetationsaufnahmen erstellt und in Vegetationstabellen geordnet. Die Transektmethode diente der Untersuchung der floristischen Diversität entlang von Nutzungsgradienten. Zudem lieferte sie Erkenntnisse über die Konkurrenzstrategien der am Sukzessionsprozess beteiligten Pflanzenarten und führte zu einem besseren Verständnis von Strukturveränderungen auf übergeordneten Maßstabsebenen. Aufbauend auf den Ergebnissen der Vegetationserhebungen wurden Geländekartierung und Luftbildinterpretation (Orthofotokarten) kombiniert, um den Ist-Zustand der Vegetation im Maßstab 1:10.000 nach physiognomisch unterscheidbaren Vegetationstypen zu erfassen. Für das obere Stronatal wurde daraus eine Karte der aktuellen Landbedeckung abgeleitet, die zum Vergleich mit der historischen Landnutzungskarte (Auswertung und Digitalisierung des Rabbini-Katasters) diente. Durch eine Kombination aus Interviews mit Almhirten, Geländeerhebungen und einer Neuklassifizierung der Vegetationskarte wurde eine aktuelle Landnutzungskarte erstellt. Für einzelne Almen wurden historische Luftbilder ausgewertet und unter Einbezug der aktuellen Vegetationskartierung Kartenreihen erarbeitet, die zur Analyse des räumlich-zeitlichenVerlaufs der Sukzession dienten.

Anhand von vorwiegend qualitativen Methoden der empirischen Sozialforschung (Interviews, schriftliche Befragungen) wurden die gegenwärtigen sozialen Rahmenbedingungen untersucht und damit die Ergebnisse der historischen Landschaftsanalyse ergänzt, um eine Basis für die Entwicklung von Zukunftsperspektiven zu schaffen. Die Zielgruppen waren Dorfbewohner, Almhirten, Ferienhaushalte und Touristen. Im Mittelpunkt standen die Identität der heutigen Bevölkerung, die gegenwärtige Nutzung der Landschaft, Wahrnehmung und Urteil zu Veränderung von Landschaft und sozialem Leben, Urteil zur Infrastruktur sowie Erwartungen und Wünsche für die Zukunft. Zur Erweiterung der Informationsbasis hinsichtlich der Entwicklung von Perspektiven für die Zukunft wurden Experten aus Politik, Verwaltung und Naturschutz interviewt.
Diese drei Untersuchungsebenen bildeten die Grundlage für eine kritische Analyse des Leitbildes Wildnis und die Diskussion von Perspektiven für die Zukunft.

Die historische Landschaftsanalyse hat ergeben, dass die Landschaft der beiden Untersuchungsgebiete vor allem durch die 700 Jahre dauernde agro-silvo-pastorale Nutzung um Heimgüter, Maiensässe und Almsiedlungen geprägt worden ist. Die traditionelle Kulturlandschaft, die je nach Höhenstufe und Standort von Kastanienselven, Weinbergen, Laub- und Mischwäldern sowie Weiden- und Wiesenflächen dominiert wurde, war das Ergebnis einer großen Ressourcenknappheit. Mit Beginn der Industrialisierung begann ein fortschreitender Entsiedelungsprozess, der im oberen Stronatal fast und im Innern des Nationalparks bereits vollständig abgeschlossen ist. Dafür haben neue Bevölkerungskreise wie Ferienhausbesitzer und Touristen Einzug gehalten.

Die Untersuchungen zu Vegetation und Landschaftsdynamik haben deutlich gemacht, dass sich die traditionelle Kulturlandschaft bereits tief greifend verändert hat. Große Flächen unterliegen Sukzessionsprozessen. Die Vegetationsentwicklung wird dabei von den folgenden natürlichen und kulturellen Standortfaktoren gesteuert:

  • anthropogene Einflussfaktoren: aktuelle und historische Nutzungsformen (z. B. Weide, Mahd, Holznutzung), Nutzungsintensität, unterschiedlicher Aufgabezeitpunkt, punktueller Ein- und Austrag von Nährstoffen, Brandereignisse
  • zoogene Einflussfaktoren: Weide- und Verbissdruck durch Haus- und Wildtiere
  • natürliche Einflussfaktoren: Meereshöhe, Exposition, Inklination, Bodenqualität, Mikroklima, Dauer der Schneebedeckung, Lawinen-, Gewässer- und Bodendynamik

Im Verlauf der Sukzession sinkt die floristische Vielfalt im Übergang vom Offenland zu verbuschten oder bereits wiederbewaldeten Flächen. Der Anteil von spezialisierten, lichtbedürftigen Offenlandarten geht zu Gunsten von konkurrenzkräftigen Halbschatt- und Schattarten zurück. Die ehemals scharfen Grenzen zwischen den Nutzungstypen werden fließend. Der Artenwechsel beschränkt sich jedoch nicht nur auf ehemalige Wiesen und Weiden. Auch in Kastanienbestände wandern andere Gehölzarten (Prunus avium, Sorbus aria, Betula pendula, Fraxinus excelsior) ein. Im ehemals reich strukturierten Nutzungsmosaik im Bereich der Heimgüter und Maiensässe nimmt gegenwärtig die Vielfalt an Vegetationstypen ab, während sie in der traditionell als Wiesen- und Weideland genutzten Almstufe vor allem in West-, Nord- und Ostexposition zunimmt.
Die Waldfläche hat sich im Untersuchungsgebiet Oberes Stronatal im Vergleich zu den Angaben im historischen Kataster um 74% erhöht. Nach aktuellen Walddefinitionen der FAO ist die heutige Landschaft, die früher vor allem durch Weiden und Wiesen geprägt war, schon fast zur Hälfte von Wald bedeckt. Regelmäßig beweidet werden nur noch 9% der Gesamtfläche, über die Hälfte ist bereits ungenutzt. Dabei ist ein ehemaliger oder bestehender Nutzungseinfluss noch auf 73% der Fläche zu erkennen. In beiden Untersuchungsgebieten ist die Begehbarkeit der Landschaft durch das Verwachsen vieler Wege deutlich zurückgegangen.

Die Landwirtschaft um die Dörfer und die traditionelle Almwirtschaft sind heute in beiden Untersuchungsgebieten weitgehend aufgegeben worden. Im Untersuchungsgebiet Premosello-Val Grande werden nur noch wenige siedlungsnahe Flächen und einige Maiensässen landwirtschaftlich genutzt. Im oberen Stronatal oberhalb von Campello Monti werden im Sommer einige hochgelegenen Almen von auswärtigen Hirten beweidet. Die Untersuchungen machten deutlich, dass diese "moderne" Form der Almwirtschaft auf deutlich verkleinerter Fläche verschiedene sozialen und strukturelle Probleme mit sich bringt.

Die Befragungen zeigten, dass die verschiedenen Zielgruppen mehrheitlich den Verlust an kulturellen Werten, der mit der Entsiedelung und Verbrachung verbunden ist, bedauern. Ein weitaus überwiegender Teil will, dass die Berggebiete bewohnt sind und die Landwirtschaft erhalten bleibt. Es gibt dafür finanzielle Unterstützung durch öffentliche Mittel, die vor allem im oberen Stronatal noch nicht optimal eingesetzt werden. Die Bewohner von Premosello und Colloro waren gegenüber der Wildnis der inneren Nationalparkbereiche (Val Grande) mehrheitlich positiv eingestellt und assoziierten den Begriff mit zahlreichen emotional-affektiven Attributen. Die Einstellung der Touristen zur Verbrachung ehemaligen Kulturlandes war ambivalent. Einerseits urteilten sie positiv über die "Wildheit" der Landschaft, andererseits bedauerten sie den Verlust der bergbäuerlichen Kultur. Die Wildnis des Nationalparks war für sie mehrheitlich mit positiv-emotionalen Attributen besetzt. Die Umwandlung von bereits teilweise entsiedelten Tälern in Wildnisgebiete wurde auf übergeordneter politischer Ebene abgelehnt, in den Gemeinden und Berggebietsgemeinschaften (Comunità montane) jedoch als mögliche Zukunftsoption betrachtet, soweit derartige Pläne vor Ort und in enger Abstimmung mit der lokalen Bevölkerung entschieden würden. Für die Zukunft wurden dennoch vor allem Erhalt der Landwirtschaft und im Falle des oberen Stronatals eine Unterschutzstellung des Gebietes gewünscht. "Sanfter" Tourismus erwies sich in beiden Untersuchungsgebieten als ein wichtiges Potenzial für die zukünftige Entwicklung. Die Meinungsumfragen haben ergeben, dass in beiden Untersuchungsgebieten eine deutliche Nachfrage nach lokalen Produkten besteht.

Eine sinnvolle Perspektive für die Zukunft des Untersuchungsgebiets Premosello-Val Grande wird in der konsequenten Umsetzung des Zonierungskonzepts gesehen, das die Nationalparkverordnung vorgibt. Auf dieser Grundlage könnte das Untersuchungsgebiet und damit der gesamte Nationalpark ein Beispiel für die Koexistenz von Flächen sein, die sich ohne Kontrolle und Eingriffe entwickeln, und von Bereichen, wo die Kulturlandschaft zu erhalten ist. Um dieses Ziel zu erreichen, sollten traditionelle und innovative Landnutzungsformen um die Dauersiedlungen und Maiensässe gefördert werden. Für die äußere, "wirtschaftliche und soziale" Entwicklungszone wird deshalb ein Konzept vorgeschlagen, das auf der Kombination von "sanften" Tourismusangeboten und angepassten agro-silvo-pastoralen Nutzungen beruht. Entsiedelte Gemarkungsbereiche - vornehmlich die Flächen im Val Grande - sollten dagegen zu Gunsten ungelenkter Landschaftsdynamik ohne Nutzung bleiben.

valgrande-stronatal.jpg

Bezüglich des Val Grande-Nationalparks ist "Wildnis" als großflächige Schutzstrategie aus verschiedenen Gründen abzulehnen: Die jahrhundertelange Nutzungsgeschichte des Ossola-/Val Grande-Gebietes steht einerseits in scharfem Widerspruch zu den Kriterien, die diesem, in Nordamerika entstandenen Leitbild, zugrunde liegen. Andererseits würde "Wildnis" in letzter Konsequenz zur Unzugänglichkeit der Landschaft und dem Verlust ihrer Erlebbarkeit führen, so dass der Nationalpark seinen gesetzlichen Auftrag, der Erholung und Bildung der Bevölkerung zu dienen, nicht mehr nachkommen könnte. Die Untersuchungen haben deutlich gemacht, dass die unkontrollierte Landschaftsentwicklung die Risiken für die Siedlungen durch Zunahme von Buschbränden sowie durch die Verklausung von Fließgewässern erhöht. Zudem führt sie zu einem deutlichen Rückgang der Vielfalt an Pflanzenarten, zu einem Verlust an landschaftsinhärentem Kulturwissen und von "Heimat". Die Analyse der beiden Fallbeispiele unterstreicht die Notwendigkeit, dass die Entscheidung darüber, auf welchen Flächen in den Alpen sich in Zukunft die Natur ungehindert entwickeln soll, nur vor dem Hintergrund von regional- bzw. lokalbezogenen Studien fallen darf, in welche die einheimische Bevölkerung von Anfang an eingebunden ist. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die traditionelle alpine Kulturlandschaft in den südwestlichen Alpen durch den großräumigen Rückzug der Landbewirtschaftung bereits heute stark gefährdet ist.
Die kritische Auseinandersetzung mit der Etymologie des Begriffs "Wildnis" und des damit verbundenen Naturschutzkonzepts hat die Notwendigkeit deutlich gemacht, sowohl Begriff als auch Konzept in der naturschutzfachlichen Diskussion besser zu reflektieren und die damit verbundene Diskussion zu versachlichen. Da das Konzept "Wildnis" mit Attributen verknüpft ist, denen europäische, historisch gewachsene Kulturlandschaften nicht gerecht werden können, ist letztlich von einer naturschutzfachlichen Verwendung dieses Begriffes abzuraten. Vielmehr wird der Begriff "Naturentwicklungsgebiet" für die Unterschutzstellung von Bereichen mit ungelenkter Landschaftsdynamik zur Diskussion gestellt.

Für das Untersuchungsgebiet Oberes Stronatal werden drei mögliche Perspektiven für die Zukunft diskutiert:

  • Trendfortsetzung, d. h. die Fortsetzung der bestehenden Trends ohne eine tiefer greifende politische Einflussnahme. An Hand der Untersuchungsergebnisse wird begründet, dass dies die Gefahr wachsender sozialer und ökologischer Konflikte in sich birgt und damit das negativste Szenario wäre.
  • Naturentwicklungsgebiet: Für die Einrichtung eines Naturentwicklungsgebiets auf der gesamten Fläche eignet sich das obere Stronatal aus verschiedenen Gründen nicht. Einerseits ist die Fläche zu klein. Andererseits ist es im Sommer bewohnt und die Einrichtung eines Naturentwicklungsgebietes würde deshalb zu verschiedenen Interessenkonflikten führen. Außerdem verfügt dieses Untersuchungsgebiet über verschiedene wertvolle Elemente der historischen Kulturlandschaft sowie die mittelalterlich geprägten Dörfer, die zu erhalten sind. Hinzu kommt, dass es in Form des Val Grande-Nationalparks bereits ein Wildnisgebiet in der Provinz V.C.O. gibt.

Das kleinflächige Nebeneinander von Resten der traditionellen Kulturlandschaft, sogenannten "Dynamikflächen" und kulturhistorisch wertvollen Zeugnissen der Vergangenheit sowie die touristische und almwirtschaftliche Nachfrage machen deutlich, dass nur ein räumlich differenziertes Nutz- und Schutzkonzept sowie die Einbindung in größere politische Zusammenhänge positive Perspektiven für das obere Stronatal eröffnen können.

  • Innovative Landeskultur: Es wird deshalb vorgeschlagen, im Rahmen des UNESCO-Programms "Man and Biosphere" (MAB), ein Biosphärenreservat "Walsergebiete um den Monte Rosa" zu schaffen. In dieser Form könnten verschiedene räumlich getrennte Schutzgebiete und ungeschützte Bereiche im Sesia- und Anzascatal gemeinsam mit dem oberen Stronatal in eine großflächige Modelllandschaft eingebunden werden mit dem Ziel, die natur- und sozialverträgliche Entwicklung von verbrachenden Gebieten im südwestlichen Alpenraum zu experimentieren. Einerseits gibt es heute in den Tälern um den Monte Rosa, die ursprünglich von den Walsern besiedelt wurden, große zusammenhängende unbesiedelte Flächen, die Sukzessionsprozessen unterliegen und sich damit für die Ausweisung als Naturentwicklungsgebiete eignen. Andererseits sind noch wesentliche Elemente der traditionellen Kultur und der dazu gehörenden Landschaft erhalten. In einem derartigen Modellgebiet könnte ein für den südwestlichen Alpenraum geeignetes Konzept der Koexistenz von Gebieten mit innovativer Landeskultur, die auf vielfältigen Aktivitäten wie Land- und Almwirtschaft, Transhumanz, Waldwirtschaft, Handwerk und Tourismus basiert, sowie Gebieten mit ungelenkter Landschaftsentwicklung, wo sich der wirtschaftende Mensch zurückzieht, erprobt werden.
 

Publikationen

HÖCHTL, F.; LEHRINGER, S. & KONOLD, W. (2005): Kulturlandschaft oder "Wildnis" in den Südalpen? Fallstudien im Val Grande-Nationalpark und im Stronatal (Piemont, Italien). Bristol Schriftenreihe, 14 - Bern: Verlag Paul Haupt, 629 S.

HÖCHTL, F.; LEHRINGER, S. (2005): Wildnis frisst Heimat. Erkenntnisse aus den Piemontesischen Alpen. Schriftenreihe des Deutschen Rates für Landespflege, 77, S. 67-76.

HÖCHTL, F.; LEHRINGER, S. & KONOLD, W. (2005): "Wilderness": what it means when it becomes a reality - a case study from the southwestern Alps.
Landscape and Urban Planning, 70, p. 85-95.

LEHRINGER, S.; HÖCHTL, F. (2005): Naturschutz und Landschaftspolitik in Italien. In: KONOLD, W.; BÖCKER, R.; HAMPICKE, U. (1999) (Hrsg.): Handbuch Naturschutz und Landschaftspflege, 16. Erg.Lfg. 8/05, ecomed, Landsberg: 17 S.

LEHRINGER, S.; HÖCHTL, F. (2005, in Druck): Abbandono della montagna e tutela del territorio - Risultati di ricerche su due paesaggi nel Piemonte: la Valle Strona e il Parco Nazionale della Val Grande. Atti VII Congresso Nazionale SIEP-IALE, 30. Settembre e 1. Ottobre 2004. Università di Genova.

HÖCHTL, F. (2004): Wilderness, alpicoltura e... agriturismo nel Parco Nazionale della Val Grande. In: Parco Nazionale della Val Grande (ed.): Wilderness & Globalizzazione, p. 21. - Verbania Pallanza: Parco Nazionale della Val Grande, p. 21.

HÖCHTL, F. (2003): Wilderness: Una soluzione per tutto il parco? Piemonte Parchi, 18 (8), suppl. 2, p. 23.

HÖCHTL, F. (2003): Kulturlandschaftsentwicklung und ‚Wildnis' im Val Grande-Nationalpark. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde an der Fakultät für Forst- und Umweltwissenschaften der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. i. Br., 364 S.

LEHRINGER, S. (2003): Folgen von Entsiedelung und Verbrachung für eine Alpenlandschaft und deren Bewohner - Das Fallbeispiel des Stronatals im Piemont (Italien). Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde an der Fakultät für Forst- und Umweltwissenschaften der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. i. Br., 342 S.

LEHRINGER, S.; HÖCHTL, F. & KONOLD, W. (2003): Effects of land use changes and depopulation on landscape, social life and tourism - overview about the results of a case study from the Piedmont Alps in Italy. Austrian Journal of Forest Science, 120 (1), pp. 1-18.

HÖCHTL, F.; BURKART, B. (2002): Landschaftsentwicklung und Bedeutung von "Wildnis" im Val Grande-Nationalpark (Piemont, Italien). In: GERKEN B.; GÖRNER, M (Hrsg.): Planung contra Evolution? Über Evolution und Landschaftsentwicklung in Mitteleuropa. Natur und Kulturlandschaft, 5, Höxter/Jena.

HÖCHTL, F. (2001): Paesaggio alpino e libero sviluppo della natura ("Wilderness") nel Parco Nazionale della Val Grande. Il territorio comunale di Premosello Chiovenda come laboratorio di ricerca. Campello e i Walser: Atti dell'Ottavo Convegno di Studi del 5. agosto 2000, p. 65-74.

LEHRINGER, S. (2001): Un paese svanisce nel bosco. Piana di Forno nell'alta Valle Strona: ultime testimonianze di civiltà rurale. Quale futuro per l'ambiente alpino con il progressivo abbandono dell'agricoltura. Le Rive1/2, Gravellona Toce, p. 35-43.

LEHRINGER, S. (2001): L'alta Valle Strona tra Paesaggio Alpino Rurale e Spontaneo Sviluppo della Natura (Wilderness). Campello e i Walser: Atti dell'Ottavo Convegno di Studi del 5. agosto 2000, p. 27-74.

HÖCHTL, F.; BURKART, B. (2000): Prima c'erano gli uomini. Dalla coltivazione intensiva della montagna all'abbandono dell'ambiente. Il caso di Colloro in Ossola nella ricerca scientifica dell' Università di Friburgo. Le Rive, 14 (5), p. 8-16.

 

 

Folgeprojekt: Tun oder unterlassen - zukünftige Schutzstrategien im Val Grande-Nationalpark

 

Das Projekt "Tun oder Unterlassen: zukünftige Schutzstrategien im Val Grande-Nationalpark" war Teil des Interreg 3A-Programms "Paesaggio transfrontaliero da promuovere e valorizzare" und wurde in der Zeit von Juli 2003 bis Oktober 2004 bearbeitet. Folgende Fragen lagen ihm zugrunde:

  • Welche Pflanzenarten und Vegetationsformationen kommen im Portaiolatal vor?
  • Welche Auswirkungen hat die Nutzungsaufgabe auf die floristische und strukturelle Vielfalt?
  • Wie ist die einheimische Bevölkerung gegenüber der Wiederbelebung traditioneller Nutzungsformen im Val Grande-Nationalpark eingestellt?
  • Welche Nutzungsarten könnten zu einer Förderung der floristischen Vielfalt beitragen?

Diese Fragen wurden in einem transdisziplinären Forschungsansatz, der Methoden der historischen Geographie, der Vegetationsökologie sowie der empirischen Sozialforschung integrierte, geklärt. Die historische Landschaftsanalyse zielte darauf ab, die traditionelle Kulturlandschaft zu rekonstruieren und sie mit ihrem heutigen Zustand zu vergleichen. Dazu wurde das Gemeindekataster von Malesco aus dem Jahr 1953 sowie umfangreiche Sekundärliteratur ausgewertet. Um die Vegetationsdynamik zu verstehen, wurden vegetationskundliche Methoden mit Methoden der Fernerkundung kombiniert. Die Vegetation wurde nach der Braun-Blanquet-Methode aufgenommen. Zudem wurden Artenlisten erstellt. Die Transektmethode diente der Charakterisierung der Sukzession und der Beschreibung der unterschiedlichen Strategien und Anpassungen der Pflanzen während dieses Prozess. Auf der Grundlage der vegetationskundlichen Aufnahmen wurde eine Vegetationskarte im Maßstab 1:10.000 nach physiognomischen Kriterien erstellt und diese durch die Interpretation von digitalen Orthophotos und Geländeaufnahmen präzisiert. Mittels einer umfangreichen Fragebogenerhebung wurde die Meinung der lokalen Bevölkerung hinsichtlich des Landschaftswandels und zukünftiger, umweltgerechter Nutzungen erhoben.

Die historische Landschaftsanalyse machte den Einfluss der langen agro-silvo-pastoralen Nutzung auf die Landschaft deutlich. Diese war, je nach Exposition und Höhenlage, von einem Mosaik aus Hoch- und Niederwäldern und deren Mischformen sowie von Wiesen und Weiden geprägt. Die Wälder stockten hauptsächlich auf mageren Standorte und steilen Hängen. Im Zuge des Wirtschaftswunders der 1960er Jahre wurde die Nutzung des Portaiolatals mehr und mehr aufgegeben. Heute wird das Portaiolatal nur noch von einer kleinen Herde von Piemonteserrindern und einigen halbwilden Ziegen und Schafen beweidet.
Die historischen und vegetationsökologischen Untersuchungen veranschaulichen den Landschaftswandel. Sukzessionsprozesse laufen auf ausgedehnten Flächen ab. In den 1950er Jahren waren 12% von Wäldern bedeckt. Von da an nahm die Waldfläche kontinuierlich zu und erreicht heute 35%. Im Jahr 1952 waren 53% des Portaiolatals als Weide genutzt, während heute nur noch 4% von extensiven Weiden und von Grasflächen bedeckt sind. 59% der Fläche sind gegenwärtig von Wäldern sowie Felsflächen und Schutthalden bedeckt. Die Auswertung der Transektergebnisse führte zu folgenden Ergebnissen:

  • In den verlassenen Wiesen und Weiden ist der Anteil der Hemikryptophyten, speziell derjenigen mit Rhizomen und Stolonen, höher als in anderen Formationen.
  • Im Zuge der Sukzession der ehemaligen Almen nimmt die Vielfalt an Pflanzenarten ab. Die Häufigkeit der lichtbedürftigen Arten geht auf Kosten von konkurrenzkräftigen, schattentoleranten Arten zurück.
  • In der unmittelbaren Umgebung von aufgelassenen Almen drängen Wild- und Haustiere die Verbuschung zurück und schaffen so Nischen für zahlreiche Offenlandarten.
  • In den Nitrophytenfluren, den Gebüschen und Wäldern ist die Artenzahl erheblich niedriger als in den Grasflächen, die noch nicht von Bäumen und Gebüschen eingenommen sind.
valgrande-omaopa.jpg

Im Portaiolatal lassen sich im Maßstab 1:10.000 gegenwärtig 14 Vegetationsformationen unterscheiden. Dazu treten drei weitere Strukturen: Felsflächen, Schutthalden und Wasserläufe. Insgesamt wurden 262 Gefäßpflanzenarten angetroffen.
Wie aus den Befragungen hervorgeht, ist den Teilnehmern das Untersuchungsgebiet wohl bekannt. Die Mehrheit der Interviewten hat sich bereits ein oder mehrere Male im Val Grande aufgehalten. Der hohe Prozentsatz der Befragten, die das Tal im Gedenken an ihre Vorfahren besucht, zeigt deren lokale Verwurzelung. Ein Großteil der Teilnehmer beurteilte die Instandsetzung der Alpe Straolgio positiv. Die Bevölkerung ist sich jedoch der Vor- und Nachteile dieses Projekts wohl bewusst: auch wenn sie mögliche positive Auswirkungen für die lokale Wirtschaft begrüßt, fürchtet sie jedoch die negativen Auswirkungen einer überstürzten und zu raschen Tourismusentwicklung. Die Nutzungsaufgabe und ihre Konsequenzen wurden generell abgelehnt. Der Val Grande Nationalpark wurde insgesamt positiv beurteilt. Nach Meinung der Mehrheit stärkt dieser die lokale Wirtschaft und trägt zur Bekanntheit von Malesco bei. Die Teilnehmer schätzen darüber hinaus die ökologische Qualität des Nationalparks. Während eine Hälfte der Befragten deutlich die Idee des Zusammenschluss des Nationalparks mit dem geplanten Tessiner Großschutzgebiet im Val Onsernone unterstützt, sind 47% der Teilnehmer dieser Idee gegenüber unentschlossen oder ablehnend eingestellt. Etwa die Hälfte der Befragten kennt den Begriff "Wildnerness" und verbindet damit eine große Zahl an gefühlsbetonten positiven Bildern.
Die Verbindung von umweltverträglichen touristischen Angeboten mit nachhaltigen, agro-silvo-pastoralen Nutzungsformen und staatlichen finanzierten Landschaftspflegemaßnahmen einerseits sowie andererseits das Zulassen ungelenkter Landschaftsdynamik ist eine sinnvolle Zukunftsoption für das Untersuchungsgebiet. Zur Sicherung der floristischen Vielfalt scheint die Beweidung mit Rindern und Ziegen sinnvoll. Eine Wiederbewirtschaftung der Alpe Straolgio muss jedoch mit äußerster Umsicht geplant und durchgeführt werden, um unerwünschte Nebenwirkungen zu verhindern (wie etwa die Ausbreitung von Weideunkräutern, den Austrag von Nährstoffen, das Entstehen von Erosionsphänomenen und ein übermäßiges Anwachsen des Tourismus mit seinen negativen Auswirkungen).

 

Folgende Doktoranden und Diplomanden befassten sich mit den aufgeführten Themen:

Dissertationen:

  • Susanne Lehringer: Folgen von Entsiedelung und Verbrachung für eine Alpenlandschaft und deren Bevölkerung - Das Fallbeispiel des Stronatal im Piemont (Italien) (näheres)
  • Franz Höchtl: Landschaftsentwicklung und "Wildnis" im Val Grande-Nationalpark (näheres)

 

Diplomarbeiten:

  • Bettina Burkart: Abschätzung der Wildnisentwicklung auf der Grundlage vegetationskundlicher und kultur-historischer Untersuchungen im Raum Colloro
  • Christine Eckert: Darstellung der Landnutzungsänderung in einem Landschaftsausschnitt Piemonts durch Luftbildinterpretation
  • Wolfgang Gemeinhardt: Beschreibung von Zustand und Dynamik der Wälder im oberen Stronatal
  • Thilo Wolf: Vegetations- und Landschaftsentwicklung der Alpe Serena im Parco Nazionale della Val Grande
  • Tatjana Reeg: Tourismus in strukturschwachen Alpengebieten am Beispiel des Stronatals und des Val Grande-Nationalparks (Piemont) - Infrastruktur und Landschaftwandel aus der Sicht der Besucher
  • Gerd Lupp: Mythos Wildnis - Innenansicht der aktuellen Wildnisdebatte in den Alpen

 

Vor dem Hintergrund der europäischen Berggebietspolitik sowie der Diskussion um Prozessschutz und "Wilderness" sollen in den Untersuchungsgebieten Strategien für die zukünftige Entwicklung von strukturschwachen Alpengebieten entwickelt werden.

 


Projektlaufzeit:

Hauptprojekt: Mai 1999 - Juni 2003
Anschlussprojekt: Juli 2003 - Juli 2004

Finanzierung:

Bristol-Stiftung, Interreg- und Eigenmittel

Projektleitung:

Prof. Dr. Werner Konold

Bearbeitung:

Dr. Franz Höchtl, Dr. Susanne Lehringer

Partner:

Parco Nazionale della Val Grande, Verbania-Pallanza
Eidg. Forschungsanstalt WSL, Sottostazione Sud delle Alpi, Bellinzona

Weitere Informationen zu den Untersuchungsgebieten und ihrer Umgebung:
  • Web-Page (Privatinitiative) zur Koordination der Informationen zum großen Weitwanderweg durch die piemontesischen Alpen (Grande Traversata delle Alpi, GTA) mit Etappenstation in Campello Monti
  • Initiative Pro Rimella
  • Centro di Documentazione Alpina, Domodossola
  • Gemeinde Malesco

 


 

 

Benutzerspezifische Werkzeuge